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Die Psychologie der Verbraucher


Realsatire neulich Abends bei Familie Müller: „Schon wieder so ein Bericht über diese schrecklichen Tiertransporte. Die armen Tiere […] Ich kann mir das nicht ansehen. Schalt‘ schnell um – ich geh‘ in die Küche und mach‘ uns ein paar Wurstbrote.“

Verbraucher sehen keine persönliche Gefährdung durch BSE (18.12.2000)

Köln (ots) – Verunsicherung, Ekel und Schuldgefühle durch die Perversion der Ernährungskultur bestimmen das Verhalten der Verbraucher – doch sie zeigen keine Bereitschaft zu Reformen: rheingold untersucht die tiefenpsychologische Dimension der BSE-Krise.

Auch wenn die Verbraucher gesundheitliche Bedenken für ihren Verzicht auf Rindfleisch anführen: Das Gefühl einer persönlichen Bedrohung durch die Übertragungsmöglichkeit von BSE ist bei ihnen  nur sehr schwach entwickelt.

Eine tiefenpsychologische Untersuchung von rheingold auf der Grundlage von zwei aktuellen Gruppendiskussionen und einer Auswertung von 1.250 Verbraucher – Explorationen zu den Ernährungsgewohnheiten im Jahr 2000 ergab, dass die Bilder von Massentierhaltung und „Kadaverwirtschaft“ den Verbrauchern den Appetit auf Rindfleisch gründlich verdorben haben. Die werbliche Idealisierung von Landwirtschaft und „Essen aus deutschen Landen“ ist empfindlich
gestört: Die „ekelhaften und perversen“ Grundlagen unserer Ernährungskultur werden sichtbar.

Doch diese Erkenntnis führt bei den Verbrauchern nicht zu grundlegenden Forderungen nach einer Reform des „perversen Systems“: Sie fühlen sich mitschuldig, weil sie sich bei ihrer Ernährung selbst fahrlässig, acht- und kritiklos verhalten und die skandalösen Zustände bislang billigend für die Wahrung von Wohlstand und Bequemlichkeit in Kauf genommen haben.

Der gegenwärtige Staus quo wird von ihnen nicht grundlegend in Frage gestellt. Die Verbraucher geben sich mit kleinen privaten Maßnahmen wie dem weitgehenden Verzicht auf Rindfleisch sowie minimalen politischen Korrekturen wie dem Verbot der Tiermehlfütterung zufrieden. Doch diese Beruhigungs-Strategien wirken nur kurzfristig: Das Unbehagen an den Lebensverhältnissen wird wiederkehren und die Verbraucher werden eine „Sucht nach Skandalen“
entwickeln, um das immer wieder aufsteigende schlechte Gewissen an einer pervertierten Kultur kanalisieren zu können. Das kulturelle System kann sein Gleichgewicht scheinbar nur noch stabilisieren, indem es häufig Skandale produziert. Diese ermöglichen es, „Dampf abzulassen“ und Stärke zu demonstrieren – ohne den Lebensstil wirklich ändern zu müssen.

Die rheingold-Untersuchungen zu den tiefenpsychologischen Folgen des BSE-Skandals ergaben acht grundsätzliche Faktoren, durch die das gegenwärtige Verhalten der Verbraucher bestimmt wird:

1. Die Verbraucher sind verunsichert, aber nicht in Panik.

Die Verbraucher sind durch die BSE-Krise irritiert und verunsichert und fast alle beobachten bei sich selbst eine Veränderung des Ernährungs-Verhaltens. Rindfleisch wird entweder gemieden, ganz vom Speiseplan gestrichen oder man sieht sich endgültig in seiner bisherigen weitgehend fleischlosen Ernährungsweise bestätigt. Nur wenige Verbraucher betonen, dass sie ihre Ernährungsgewohnheiten beibehalten.

Der partielle und vorübergehende Verzicht auf Rindfleisch ist aber weniger in gesundheitlichen Befürchtungen der Verbraucher begründet. Eine Angst an BSE zu erkranken oder gar Anzeichen für eine BSE-Hysterie konnten nicht ermittelt werden. Das Erkrankungsrisiko wird als eher klein bagatellisiert und primär nach England verschoben.

2. Der BSE-Skandal macht die fiesen und perversen Seiten unserer Ernährungskultur sichtbar.

Die Berichterstattung in den Medien über BSE hat den Verbrauchern allerdings buchstäblich den Appetit verdorben und ist ihnen auf den Magen geschlagen. Die Bilder von Massentierhaltungen, Tiertransporten, Rinderkadavern, Schlachthäusern und Wurstverarbeitungen haben die schmutzigen und perversen Seiten unserer (Ernährungs-) Kultur deutlich vor Augen geführt. Die werblichen Idealisierungen von Landwirtschaft und Essen aus deutschen Landen zerplatzen und der gemeine, aber dennoch alltägliche Wahnsinn unserer Lebensgrundlage tritt hervor: Ekliges, Mörderisches, Kannibalistisches. Die Verbraucher sind bestürzt, sie fragen sich, wo sie überhaupt leben, erleben sich selber als „Blut- und Dreckmaschinen“ in einer „Kadaverwirtschaft“, als „Mülleimer“, die sich alles einverleiben. Die Tiertransporte erinnern an „Flüchtlingsschiffe“, an „Sklaven- oder Judentransporte“, die Massentierhaltung gemahnt daran, dass es immer noch „Konzentrationslager in Deutschland“ gibt. Angesichts von kannibalistischer Tiermehlverfütterung und Massenschlachtungen kippt das Bild vom gesunden Deutschland und unseren vernünftigen Lebensverhältnissen. Ein diffuses Unbehagen nimmt Gestalt an, dass in unserer Kultur immer noch vieles völlig falsch läuft, pervertiert und von einer lebensverachtenden Profitgier bestimmt ist.

3. Die Forderung einer radikale Reform des Systems bleibt aus. Der Verbraucherunmut erschöpft sich in halbherzigen, privaten Kriseninterventionen.

Ähnlich wie im Parteispenden-Skandal führt dieses Unbehagen, dass im Großen und Ganzen der Gesellschaft etwas schief läuft, aber nicht zu entschiedenen Protesten oder zu der Forderung nach radikalen System-Reformen.

Die Verbraucher reagieren vielmehr mit einer Mischung aus Schuldgefühl und Betroffenheits-Apathie. Empörung und Unbehagen werden sogleich wieder tiefgekühlt oder relativiert. Die beobachtbaren Verhaltensänderungen sind nur halbherzig und kurzfristig. Sie beschränken sich überdies auf den privaten Lebensrahmen. Bei der privaten Krisenintervention lassen sich drei typische Umgangsformen differenzieren:

– Der Ignorant blendet die BSE-Problematik und sein kulturelles Unbehagen völlig aus und isst demonstrativ weiter Rindfleisch.

– Der Korrigierer versucht das Problem durch kleine isolierte Maßnahmen bzw. Einschränkungen in den Griff zu bekommen und herunterzukochen.

– Der Umsteiger vollzieht eine aktive Kehrtwendung im privaten Ernährungs-Rahmen. Er kocht selber, wählt bewusst aus und entwickelt eine eigene Ernährungs- Ideologie, die garantieren soll, dass der eigene Bereich von unbehaglichen Verhältnissen frei bleibt.

4. Die Verbraucher fühlen sich mitschuldig am BSE-Skandal.

Die Verbraucher verspüren, dass sie in den Skandal selbst mitverwickelt und mitschuldig sind, weil sie nicht genau hinsehen (wollen), weil sie in puncto Ernährung selber schlampig, kritiklos und bequem sind oder auf billige Angebote setzen. So versuchen sie, das eigene schlechte Gewissen auf andere zu schieben. So wandert der „schwarze Peter“ von den Politikern zu den Landwirten, von dort weiter zur Industrie oder zum Handel, um dann letztlich wieder beim Verbraucher zu landen. Die Nachfrage ist ja da. Die Mitschuld bleibt und damit ein Gefühl der Hilflosigkeit, die persönliche BSE-Zwickmühle nicht auflösen zu können.

So geben sich die Verbraucher mit kleinen Korrekturen wie einem Verbot der Verfütterung von Tiermehl zufrieden. Über Risiken soll aufgeklärt werden und Fleisch besser zertifiziert werden. Bis dahin schränkt man den Rindfleisch-Konsum ein. Mit dem privaten Verzicht auf Rindfleisch soll auch der ganze Problem-Komplex mit vom Tisch kommen. Letztendlich soll der Status quo erhalten und eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensverhältnissen vermieden werden.

5. Der Überfluss fördert eine achtlose Beliebigkeit im Umgang mit Nahrungsmitteln.

Die meisten Verbraucher erleben die Einschränkung des Rindfleischverzehrs allerdings gar nicht als wirklichen Verzicht. Das Ernährungsverhalten ist von einer großen Achtlosigkeit, Lieblosigkeit oder Beliebigkeit geprägt. Bequeme, schnelle Versorgung wird von den Verbrauchern favorisiert. Dass man irgendetwas isst, und wie man es isst, ist häufig wichtiger als, was genau auf den Tisch kommt. Die Verbraucher verzichten in dieser Logik zwar auf Rindswurst, aber nicht auf ihre rituelle Mittagspause bei McDonald’s. Es ist ihnen häufig egal, ob sie Rindfleisch, Schweinefleisch oder Geflügel verzehren. Im Zuge der ständigen und billigen Verfügbarkeit von Fleisch und Ernährungsprodukten hat eine Egalisierung der Ernährung stattgefunden. Man nimmt, was gerade einfach verfügbar ist, bewusstes Auswählen und Qualitätskontrolle sind trotz gegenteiliger Beteuerungen eher die Ausnahme.

6. Der mündige Verbraucher hat sich in Sachen Ernährung selber entmündigt.

Die Verbraucher haben die Frage der Versorgung buchstäblich aus der Hand gegeben. Sie setzen auf die Versorgungskultur, die über Fast Food Angebote, convenience Menüs oder Mikrowellengerichte alles wie im Schlaraffenland mundgerecht serviert. Außerhalb der traditionellen Familie ist der Gang zum Markt oder das tägliche Kochen eine Ausnahme. Ein Großteil der mündigen Verbraucher hat sich in Fragen der Ernährung selbst entmündigt. Er ist nicht mehr fähig, die Güte und Qualität von Nahrungsmitteln einzuschätzen. Bei seiner Ernährung reagiert er wie ein kleines Kind: Er isst, wenn es ihm schmeckt und er verweigert die Nahrung, wenn ihm etwas nicht behagt. Sein wichtigstes Interesse ist es, das Versorgungsparadies und seinen bequemen Lebensstil zu erhalten – selbst angesichts der drastischen Kehrseiten, die die BSE-Krise vor Augen führt. Die innere Stimme, eigentlich selber etwas ändern zu müssen, wird gebetmühlenartig durch die rechtfertigenden Zwänge übertönt: Der Druck der Leistungsgesellschaft oder der Freizeitstress, die Größe der Familie oder das Singledasein, die Vielzahl der Aufgaben und Herausforderungen erlauben eben keinen anderen Ernährungsstil.

7. Die BSE-Erkrankung spiegelt und bestraft die eigene Unmündigkeit und Hilflosigkeit.

Unterschwellig bleibt aber dennoch eine Verunsicherung und ein schlechtes Gewissen zurück. Die Möglichkeit einer BSE-Infektion kann daher auch als himmlische Strafe für den eigenen unmündigen Lebensstil erlebt werden: Man lebt paradiesisch, fordert die totale Versorgung ein und verliert dabei mehr und mehr die eigene Mündigkeit und Versorgungsfähigkeit. Der Verlauf der Krankheit versinnbildlicht dabei das eigene Unmündigkeits-Schicksal: BSE macht aus dem erwachsenen, tatkräftigen Menschen ein kleines, hilfloses Kind, das sich selber nicht mehr versorgen kann.

8. Die Verbraucher entwickeln eine Sucht nach periodisch wiederkehrenden (Lebensmittel-)Skandalen.

Das verbleibende allgemeine Unbehagen der Verbraucher an den Lebensverhältnissen kann paradoxerweise durch isolierte und komprimierte Lebensmittel-Skandale wieder fassbar gemacht und behandelt werden. Der Skandal definiert ein abgestecktes Feld, in dem man sich einmal echauffieren und empören, und auf dem man durch
kleine Korrekturen und Verbote wieder Ruhe und Ordnung herstellen kann. Da bei diesem Verhalten allerdings das große Ganze nicht in Frage gestellt wird, ist die Beruhigung nur kurzfristig: Das Unbehagen an den Lebensverhältnissen kehrt sehr schnell wieder. So entsteht ein Teufelskreis, denn immer neue Skandale sind notwendig, um das wieder aufsteigende Unbehagen zu behandeln. Die Verbraucher entwickeln eine Sucht nach Skandalen, nach dem damit verbundenen begrenzten emotionalen Kick sowie den kurzfristigen Möglichkeiten der Empörung und der Demonstration von Handlungsfähigkeit: Unser System kann sein Gleichgewicht scheinbar nur noch stabilisieren, indem es jeden Monat einen Skandal produziert. Dieser ermöglicht es, Dampf abzulassen und Stärke zu demonstrieren – ohne den Lebensstil wirklich verändern zu müssen. Der Skandal ist eine Art bereinigende Monatsblutung der Gesellschaft, die aufzeigt, dass keine anderen (Lebens-)Umstände eintreten werden.

Rückfragen bitte an:
Thomas Strätling
Pressesprecher /
Leiter Unternehmenskommunikation
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